Einführung in den Text

Beschreibung der Handschrift

Die Edition folgt dem Text der einzigen überlieferten Handschrift, die sich unter der Signatur Chroniken und Darstellungen 12 (Bestände 7030) im Besitz des Historischen Archivs der Stadt Köln (HAStK) befindet. Aufgrund der Restaurierung der Handschrift, die nach ihrer Bergung nach dem Einsturz des Archivgebäudes im März 2009 notwendig wurde, ist sie derzeit nicht einsehbar. Die Handschrift umfasst 22 Blatt, die zum einen das Konzept des Nuwen Boychs wie auch den Text selbst sowie eine von einer Hand des 17. Jahrhunderts verfasste Kopie eines Instrumentum Notariale aus dem Jahr 1487 beinhalten. Die Seiten des Konzepts sind paginiert, während der übrige Text foliiert ist:

S. 1-3: Konzept

Bl. 58v–74r: Dat Nuwe Boych

Bl. 75v-76r: Instrumentum Notariale

Der Beschreibstoff der Handschrift ist Papier. Die Maße der Handschrift betragen 30 cm x 21 cm (vgl. Handschriftencensus Rheinland, S. 908, Nr. 1546). Die Handschrift ist Ende des 14. Jahrhunderts (vgl. Handschriftencensus Rheinland, S. 908, Nr. 1546), genauer nach 1396 entstanden.

Inhalt des Textes

Das Nuwe Boych stellt eine Auflistung der Verfehlungen und Vergehen dar, die sich die Vertreter der patrizischen Führungsschicht der Stadt Köln in der Zeit von 1360 bis 1396 hatten zuschulden kommen lassen. Es behandelt all jene Ereignisse dieses Zeitraums, die deutlich belegen, dass die Patrizier, die bis 1396 die Regierung der Stadt dominierten, das Gemeinwohl zugunsten eigener Ziele opferten. Damit strebt der Verfasser, Gerlach vom Hauwe, den Beweis an, dass die patrizischen Geschlechter nicht in der Lage sind, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Der Text selbst ist von einer episodalen Struktur geprägt. In insgesamt 38 kurzen Abschnitten berichtet der Verfasser von den Vorkommnissen, die von Veruntreuung (vgl. Blatt 58v, 66v) über Vorteilsnahme (vgl. Blatt 64r, 65r, 66v, 68v) bis hin zum Putschversuch (vgl. Blatt 69r) reichen, die sich in 36 Jahren ereignet haben. Andere historische Begebenheiten, die nichts mit der politischen Situation in der Stadt zu tun haben, werden nicht behandelt. Einen beträchtlichen Anteil machen in der Darstellung die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit aus, die sich mit den Auseinandersetzungen zwischen den beiden patrizischen Gruppierungen der „Greifen“ und der „Freunde“ beschäftigen. Diese bestanden einerseits aus Angehörigen des städtischen Rates („Greifen“) und Mitgliedern des einflussreichen Schöffenkollegiums („Freunde“) (vgl. STEIN 1893:269). Den Höhepunkt erreichten die Konflikte in den 1390er Jahren. In ihrem Fokus steht dabei die Person des Ritters Hilger von der Stesse, der gemeinsam mit seinem Verwandten, Heinrich vom Stabe, den Versuch unternahm, die Vorherrschaft der Schöffengeschlechter in der Stadtpolitik zu brechen und den Einfluss der Greifen auf die Regierung zu erhöhen. Nach anfänglicher Zustimmung zu seinem Vorgehen, mit dem Hilger die Macht der Schöffenpartei immer weiter einzudämmen versuchte, verlor er jedoch zusehends an Unterstützung in den eigenen Reihen (vgl. MILITZER/HERBORN 1980:54). So wurde sein Vertrauter, Heinrich vom Stabe, wegen eines Putschversuches aus der Stadt verbannt (vgl. Blatt 69v), Hilger selbst musste sich vor dem Rat und dem König verantworten, weil er seine Amtsbefugnisse dazu missbraucht hatte, sich selbst das Privileg eines Freigerichts auf der Insel Osterwert vor Köln zusichern zu lassen (vgl. Bl. 68v). Schließlich überspannte Hilger den Bogen, als er den Rat dazu zwang, die Verbannung Heinrichs vom Stabe rückgängig zu machen (vgl. 69v f.) und diesem widerrechtlich Zugang zur Stadt verschaffte (vgl. Blatt 70v).

Die „Freunde“ erkannten ihre Gelegenheit, die gegnerische Partei auszuschalten, indem sie am 4. Januar 1396 die im Rat versammelten „Greifen“ gefangen nahmen. Einzig Hilger von der Stesse und seinem Vertrauten Lufard von Schiederich gelang die Flucht. Heinrich vom Stabe hingegen wurde mit den anderen „Greifen“ in Gewahrsam genommen und schließlich wenige Tage später, am 11. Januar 1396 hingerichtet. Über seine Verstrickungen in die Affäre gibt das Protokoll seines Geständnisses, das der Stadtschreiber Gerlach vom Hauwe sowohl auf Lateinisch als auch auf Deutsch dem Text beigab, Auskunft (vgl. Blatt 71v f.). Nach der Entmachtung der „Greifen“ übernahmen die „Freunde“ die Regierungsgeschäfte. Doch bereits nach wenigen Monaten wurde auch deren reaktionäres Regiment gestürzt: Am 18. Juni 1396 beteiligte sich die Gemeinde an einer unblutigen Aktion gegen die „Freunde“, bei der die führenden Mitglieder der Schöffenpartei gefangen genommen (vgl. Blatt 74r) und somit das Ende der Patrizierherrschaft eingeleitet wurde.

Bedeutung des Textes und politisch-gesellschaftlicher Hintergrund

Der Verfasser des Nuwen Boychs, Gerlach vom Hauwe, berichtet keineswegs objektiv über die politischen Vorfälle, die sich zwischen 1360 und 1396 ereignet haben. Sein Ziel ist es, die Vergehen der alten Führungsschicht, ihre eigennützige und dem Gemeinwohl abträgliche Politik und ihr allgemeines Versagen in der Regierungsverantwortung so deutlich wie möglich vor Augen treten zu lassen. Nur so kann er die Notwendigkeit für den politischen Umsturz und die Reform der Stadtregierung nachweisen und diese legitimieren. Wohl aus diesem Grund unternimmt er auch einige Manipulationen an der tatsächlichen Chronologie der Ereignisse, um die Drastik des Geschehens zu erhöhen und den Rezipienten das Bild einer geballten Verfehlungswelle der Patrizier zu vermitteln. So stellt er bereits am Anfang des Textes die Ereignisse um die Veruntreuungen des Rutger vom Grin, die eigentlich im Jahr 1367 stattgefunden hattenm vor den Streit um die Zollerhebung am Kölner Bayenturm, der ins Jahr 1364 fiel (vgl. MILITZER 1980:158). Es ist eher unwahrscheinlich, dass ein in der Stadtpolitik versierter Mann wie Gerlach vom Hauwe, der zudem durch sein Amt Zugang zu städtischen Dokumenten hatte, wodurch er Zweifel am chronologischen Ablauf der Ereignisse hätte ausräumen können, hier einem Irrtum erlegen wäre. Vielmehr muss von einer vorsätzlichen Manipulation des Geschehens

ausgegangen werden. Dies bestätigt sich auch in der bewussten Verschleierung der zeitlichen Relation, die zwischen den einzelnen Begebenheiten liegt. Lediglich am Anfang benennt Gerlach den Berichtszeitraum. Alle weiteren Zeitangaben beschränken sich auf die vagen Formeln darna nyet lange, id geviele zo eyner zijden oder darna kurtlichen, die den Eindruck erwecken, die Begebenheiten hätten sich innerhalb eines kurzen Zeitraums abgespielt. Die legitimierende Funktion, die der Text entfalten soll, ist insofern von Bedeutung, als mit der Entmachtung der alten Führungsschicht und der politischen Neuordnung der Stadtregierung eine nie dagewesene Veränderung vollzogen wurde. Diese bedurfte daher ohne Zweifel einer fundierten Rechtfertigung, die allein der historischen Entwicklung zu entnehmen war. Der Text des Nuwen Boychs entstand wahrscheinlich in großer zeitlicher Nähe zur Ausarbeitung der neuen kölnischen Verfassung, dem Verbundbrief. Hieran war der Stadtschreiber Gerlach vom Hauwe maßgeblich beteiligt. Über den genauen Zusammenhang zwischen der Arbeit an der neuen Verfassung und der Aufarbeitung der historischen Ereignisse kann nur spekuliert werden: Gab der Rat der Stadt gleichzeitig das historische Werk in Auftrag, um die Legitimität der neuen Verfassung zu erhöhen? Oder entstand der historische Abriss vielmehr auf Eigeninitiative seines Verfassers, der seine eigenen Verstrickungen in die Geschehnisse damit herunter zu spielen versuchte? Tatsächlich hatte Gerlach eine nicht unbedeutende Rolle in der Kölner Politik gespielt und hatte Verbindungen zu allen wichtigen Personen der Stadtregierung (vgl. Verfasser des Textes).

Verfasser des Textes

Als Verfasser des Nuwen Boychs gilt in der neueren Forschung der Stadtschreiber Gerlach vom Hauwe. Bereits im Jahr 1888 konnte der Kölner Historiker Hermann KEUSSEN die Einwände Hermann CARDAUNS (1875:267f.) entkräften, der es für unwahrscheinlich hielt, dass gerade Gerlach, der wegen subversiver Umtriebe im Jahr 1398 hingerichtet worden war, die historische Legitimationsschrift der politischen Revolution von 1396 verfasst haben sollte. Tatsächlich bietet das Leben des Gerlach vom Hauwe, soweit es sich rekonstruieren lässt, zahlreiche Brüche und Neuorientierungen, die einen opportunistischen Geist vermuten lassen (vgl. KEUSSEN 1888:15f.). Gerlach wurde um 1365/70 in Köln geboren und war zunächst, nachdem er sein Studium an der Universität Köln beendet hatte, als Schreiber am Schöffengericht tätig. Er machte die Bekanntschaft des „Greifen“-Führers Hilger von der Stesse, den er im Jahr 1392/93 nach Prag an den Hof König Wenzels begleitet (vgl. HERBORN/MILITZER 1980:52). Wenn schon nicht als Anhänger Hilgers, muss er doch als dem Umfeld der „Greifen“ nahestehend bezeichnet werden (vgl. KEUSSEN 1888:9). Im Jahr 1395 wechselte Gerlach vom Schöffengericht in den Dienst der Stadt, wo er die städtischen Schreinsbücher führte (vgl. KEUSSEN 1888:7). Im Jahr 1396, nach dem Sturz der „Greifen“ ist Gerlach als Bediensteter der siegreichen Schöffenpartei bezeugt. Er trat unter anderem als Schreiber der Verhörprotokolle auf, kann also als Zeuge für die juristische Aufarbeitung der Taten der „Greifen“ betrachtet werden. Sein eigener Anteil an den vergangenen Ereignissen scheint dabei jedoch nicht ins Visier der Ermittlungsbehörden gekommen zu sein. Auch nachdem die Schöffenpartei im Juni 1396 ihrer Macht enthoben wurde, blieb Gerlach im Dienst der Stadt und wirkte hier maßgeblich an der Ausarbeitung der neuen Stadtverfassung, dem Verbundbrief, mit (vgl. BECKERS 1980:1264). Zu dieser Zeit entstand wahrscheinlich auch der Text des Nuwen Boychs (vgl. Entstehung des Textes). Trotz seines Engagements für die neue politische Ordnung unterließ es Gerlach nicht, Kontakte sowohl zu den „Greifen“ als auch zu den „Freunden“ zu pflegen. So konnten Verbindungen zu dem stadtflüchtigen Führer der Schöffenpartei, Konstantin von Lyskirchen, festgestellt werden (vgl. CARDAUNS 1875:267f.) wie auch zum führenden Kopf der „Greifen“, Hilger von der Stesse.

Im Jahr 1398 gelang es dem Kölner Rat, Hilger von der Stesse wie auch den Patrizier Hermann von Goch festzunehmen, denen Verschwörung gegen die neue Verfassung vorgeworfen wurde (vgl. SCHWARZ 1904:421 sowie DROEGE 1964:492). Letzterer belastete in seinem Verhör auch Gerlach vom Hauwe schwer, der daraufhin im Mai 1399 festgenommen wurde. Nachdem er des Hochverrats angeklagt und verurteilt worden war, wurde Gerlach am 7. Juni 1399 hingerichtet (vgl. KEUSSEN 1888:24).

Entstehung des Textes

Eine exakte Datierung für die Entstehung des Nuwen Boychs ist nicht möglich. Dennoch lässt sich der Zeitraum, innerhalb dessen der Text entstanden sein muss, auf maximal drei Jahre begrenzen. Der Terminus post quem kann dabei aus den im Text dargestellten Ereignissen abgeleitet werden: Die letzte Begebenheit, von der Gerlach berichtet, die Einbestellung eines neuen Rates, kann auf den 24. Juni 1396 datiert werden. Gerlach muss also nach diesem Zeitpunkt mit der Abfassung seines Werkes begonnen haben. Den definitiven Endpunkt für die Abfassung des Nuwen Boychs setzt der Tod des Verfassers am 7. Juni 1399. Doch sprechen gute Gründe dafür, den Terminus ante quem zeitlich noch früher anzusetzen. Bemerkenswert ist, dass die Verhaftung und Hinrichtung Hilgers von der Stesse, der im Text als advocatus diaboli dargestellt wird, nicht erwähnt ist. Dies kann, wie CARDAUNS (1875:268) plausibel darlegt, nur darauf hindeuten, dass das Nuwe Boych vor diesem Zeitpunkt vollendet worden war. Es erscheint wahrscheinlich, dass das Werk bereits kurz nach dem politischen Umsturz im Juni 1396 in Angriff genommen wurde und möglicherweise im Umfeld der Arbeiten zur neuen Verfassung, dem Verbundbrief, entstand (vgl. MENKE 1958:23). Ob für seine Erstellung ein offizieller Auftrag des Rates erging oder ob es auf die Eigeninitiative seines Verfassers entstand, bleibt ungeklärt. Es sind zumindest keine Dokumente erhalten, die einen Auftrag von städtischer Seite bestätigen. Dennoch spricht die Einbindung offizieller Dokumente wie das Schöffenweistum (vgl. Bl. 51v f.) die erzbischöfliche Urkunde und (vgl. Bl. 53r f.) und das Geständnis des Heinrich vom Stabe (vgl. Bl. 71v f.) dafür, dass Gerlach zumindest mit Duldung der städtischen Behörden sein Werk vollenden konnte.

Monika Hanauska